Die Legendre-Transformation

Der Übergang von den Lagrange-Gleichungen zu den Hamilton-Gleichungen erscheint weniger rätselhaft, wenn man die mathematische Transformation kennt, durch die diese beiden Darstellungen ineinander überführt werden.

[Einige Teile der Vorlesungen haben es nicht in die Bücher geschafft. Die Legendre-Transformation gehört dazu. Sie ist zum Verständnis der Hamilton-Mechanik nicht notwendig, sie zeigt aber den Weg dahin.]

Wir haben zwei verschiedene Konzepte kennengelernt, aus denen wir die Newtonschen Bewegungsgleichungen ableiten konnten: die Lagrangeschen und die Hamiltonschen Gleichungen. Die Grundlage bilden dabei zwei verschiedene Funktionen; einmal die Lagrange-Funktion L(q,v), das andere Mal die Hamilton-Funktion H(q,p). Wir gelangten von der Lagrange-Funktion zur Hamilton-Funktion, indem wir die konjugierten Impulse p = \frac{dL}{dv} einführten und dann H(q,p)= pv - L(q,v) setzten. Wir haben danach öfter auf die Gleichwertigkeit des Lagrangeschen und Hamiltonschen Ansatzes hingewiesen, aber es scheint doch so zu sein, dass wir die Hamilton-Funktion aus der Lagrange-Funktion ableiten. Die Symmetrie zwischen diesen beiden Funktionen ist aber stärker.

Sehen wir uns noch einmal die Ausgangslage an. Die Lagrange-Funktion hängt von den Koordinaten q und den Geschwindigkeiten v ab, die Hamilton-Funktion dagegen von q und den (generalisierten) Impulsen p, was uns dann in den Phasenraum führte. Der Unterschied liegt also darin, dass wir statt der Geschwindigkeiten v die Impulse p verwenden möchten. Dies ist möglich, da es zwischen den v und p eine ein-eindeutige Beziehung gibt: Aus den Geschwindigkeiten v folgen die Werte für die Impulse p, und umgekehrt. Wir haben damit eine Funktion vorliegen, die die v auf die p abbildet, und umgekehrt die p auf die v. Dies können wir uns grafisch so vorstellen wie in der folgenden Abbildung:

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Wir haben hier eine spezielle Funktion abgebildet, die stetig wächst. Wir hätten auch eine stetig fallende Kurve zeichnen können. Wichtig ist aber, dass man von einem v immer zu einem p gelangt, und umgekehrt. Als weitere Vereinfachung nehmen wir auch an, dass die Kurve durch den Nullpunkt verläuft. Dies stellt keine wesentliche Einschränkung dar, wie wir noch sehen werden.

Wir geben der Funktion auch gar keinen speziellen Namen, sondern stellen einfach fest, dass die Impulse p Funktionen der Geschwindigkeiten v sind, und umgekehrt die Geschwindigkeiten v Funktionen der Impulse p:

(1)   \begin{align*}p = p(v) \\v = v(p)\end{align*}

Vergessen wir für einen Moment, dass es sich bei v und p um physikalische Größen handelt; wir könnten sie auch mit mit den Variablen-Namen x und y bezeichnen. Das folgende gilt tatsächlich immer dann, wenn wir eine eineindeutige Abbildung haben.

Wann immer die beiden Gleichungen 1 erfüllt sind, so gibt es eine Funktion L = L(v) mit

(2)   \begin{equation*}p(v) = \dfrac{dL(v)}{dv}\end{equation*}

Umgekehrt gibt es auch eine Funktion H mit

    \[v(p) = \dfrac{dH(p)}{dp}.\label{eq:z4-03}\]

Wir könnten die Funktionen L und H auch mit F und G bezeichnen, denn dies gilt unabhängig von irgendwelchen physikalischen Realitäten. Wir verwenden aber weiterhin L und H, um den Überblick zu behalten. Dafür lassen wir der Einfachheit halber die Variable der Koordinaten q weg.

Um die Existenz von L und H einzusehen, setzen wir einfach

(3)   \begin{align*} L(v) = \int_{0}^{v}{p(v') dv'} \\ H(p) = \int_{0}^{p}{v(p') dp'} \end{align*}

Dies sind die bestimmten Integrale der Funktionen v(p) bzw. p(v). Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung besagt nun, dass

    \begin{align*}  \dfrac{dL(v)}{dv} = \dfrac{d }{dv} \int_{0}^{v}{p(v') dv'} = p(v) \\ \dfrac{dH(p)}{dp} = \dfrac{d }{dp} \int_{0}^{p}{v(p') dp'} = v(p)  \end{align*}


gilt, d.h. L und H erfüllen genau die Bedingungen der Gleichungen (1) und (2). Hier sehen wir auch, dass wir unsere Funktion der Einfachheit halber durch den Nullpunkt gehen lassen konnten; eine Verschiebung nach oben oder unten hätte nur Konstanten erzeugt, die sich dann weggekürzt hätten.

L und H sind also gerade die Flächen rechts unterhalb bzw. links oberhalb des Funktionsgraphen:

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Zusammen ergeben sie die Fläche des Rechtecks, das durch p und v erzeugt wird:

    \[ pv = H(p) + L(v). \]

In dieser Gleichung sind p und v auf der linken Seite und L und H völlig gleichwertig.

Gehen wir nun von v zu p über, so erhalten wir

    \[ H(p) = pv - L(v) \]

Dies ist genau die Definition der Hamilton-Funktion. Es gilt aber auch umgekehrt:

    \[ L(v) = pv - H(p), \]

d.h. die Lagrange-Funktion ergibt sich auf völlig symmetrische Weise aus der Hamilton-Funktion.

Dieser allgemeingültige Übergang von v zu p und von L nach H wird in der Mathematik Legendre-Transformation genannt. Sie ist immer dann möglich, wenn zwischen zwei Variablen x und y eine ein-eindeutige Beziehung besteht und man die Variable x durch y ersetzen möchte.

Wir sehen also, dass durch die Legendre-Transformation und dem Übergang von v zu p die Hamilton-Funktion aus der Lagrange-Funktion entsteht. Dieser Übergang ist auch umgekehrt möglich, falls man mit den generalisierten Koordinaten beginnt. Während wir mit den Geschwindigkeiten v eine konkrete Vorstellung verbinden, sind die generalisierten Impulse p abstrakter und entziehen sich mitunter der Vorstellung. Dafür haben wir festgestellt, dass H die Energie des Systems beschreibt, während die Lagrange-Funktion L keine für uns wahrnehmbare und meßbare Größe darstellt. Ansonsten sind die Ansätze aber gleichwertig, denn bei dem Übergang haben wir lediglich geometrische Einsichten verwendet und keine physikalischen.